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Aus dem Leben geflogen {Samstagsplausch 27-22}

02.07.2022 | Samstagsplausch

„Aus dem Leben geflogen“… Das dachte ich diese Woche, als ich auf dem Weg zur Arbeit war. Wie du sicherlich weißt, fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Dabei hat man, gerade morgens um 5.30 Uhr, oft die Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen. Der Stadtverkehr ist noch nicht richtig erwacht, da geht das mit dem schweifen schon mal. Dieser Halbsatz ist mir in den Sinn gekommen, als ich an einer recht jungen Frau vorbei fuhr. Sie stand an einer Bushaltestelle und zog sich gerade die Träger ihres Shirts hoch. Die Haare eher eine Art Dreadlocks, vielleicht auch ungepflegt, ungebürstet. Um sie herum standen verschiedene Rucksäcke, Taschen, Tüten und ein kleiner Koffer. Im ersten Moment dachte ich, eine ungewöhnliche Art zu verreisen. Doch so früh, nicht an einer Haltestelle zum Zug oder Flugzeug stehend, wirkte alles ein wenig falsch.

Aus dem Leben geflogen

Ja, die junge Frau gehört wohl zu den vielen Menschen, die keine Wohnung mehr haben. Ihr ganzes Leben scheint sich auf die wenigen Sachen in den Tüten und Taschen zu beschränken. Ihr Anblick hat irgend etwas in mir angeschubst. Meine Gedanken fingen an zu rotieren. Was wäre, wenn man seinen Job verliert, den Weg nicht zum Sozialamt schafft, sich nicht traut um, an etwas zu bitten, was eigentlich jedem zusteht? Wie oft fahre ich an Menschen vorbei, die eben so aus dem Leben geflogen sind, wie diese Frau…

Regelmäßig, komme ich an einem Mann vorbei, der sich eine Burg gebaut hat, aus all seinem Hab und Gut. Er sitzt direkt am Eingang zum Gleisdreieckpark. Er bastelt dort auch oft an Dingen, die ihm scheinbar vorbei kommende Menschen abkaufen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite nächtigt ebenfalls ein Wesen, direkt vor dem S-Bahneingang. Manchmal liegen die Habseligkeiten auch auf meinem Radweg. Wohnt dieser Mensch dort, weil es dort „sicher“ ist? In Charlottenburg, am S-Bahnhof unter den Brücken, entstehen immer wieder Wohngemeinschaften Aus-dem-Leben-Geflogener. Sie sitzen beim Nachbarn auf der gefundenen Matratze und unterhalten sich, oder was auch immer. Dabei muss das doch nicht so sein, oder? Die „Charlottenburger“ sind dabei meist Menschen aus den Ost-Staaten. Doch meistens sieht man nur Männer. Ich glaube auch, dass es den Frauen unter den Wohnungslosen noch elender geht. Sie noch angreifbarer sind als die männlichen.

Berlin bietet in manchen Bezirken inzwischen kleine Tinyhouses, sogenannte Safe Places für Wohnungslose an. Eine gute Idee, die noch viel öfter umgesetzt werden müsste. Aber auch da muss man sich wohl drum bemühen und man muss darauf achten, dass  um sein Häuschen herum Ordnung herrscht. Eigentlich eine gute Idee. Nur ob die Häuser reichen werden
Meine Gedanken drehen sich immer weiter…

Meine Woche…

…war eher ruhig. Sie war mit Besuchen gespickt und mit der Arbeit. Ich kam eigentlich zu nichts und doch zu sehr vielem. Keine Zeit, um meine Bücher zu lesen. Und doch habe ich Eines beendet und rezensiert. Ich habe mit einer Lektorin gelacht und ausnahmsweise mit dem Vater friedlich gesprochen. Wir haben geschwitzt und gestern gefroren, den Regen beklatscht und uns vor der Sonne versteckt. Ich bin Fahrrad gefahren und habe auch das Auto bewegt. Irgendwie von allem etwas. Und du? Was hast du diese Woche erlebt?

Was ein Mensch an Gutem in die Welt hinausgibt, geht nicht verloren

(Albert Schweitzer Arzt und Philosoph)

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17 Kommentare

  1. Carolyn Flickensalat

    Hallo Andrea,
    aus dem Leben geflogen – eine interessante Beschreibung. Aber irgendwie sind sie auch drin im Leben, in einem anderen Leben. Die Frage ist, warum findet ihr Leben am Straßenrand und unter Brücken statt? Da ist ein Fehler im System. Aber wo fängt es an abzudriften? Wo fängt es an, dass Menschen ihre Augen vor dem Elend anderer verschließen? Deine Beobachtung regt zum Denken an
    Liebe Grüße Carolyn

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  2. Catrin

    Dein Bericht hat mich sehr berührt, man sollte viel öfter über die Menschen nachdenken, die Hilfe brauchen. Man müsste sich viel mehr um sie kümmern, denn so sollte kein Mensch leben müssen.
    Ich wünsche dir einen schönen Sonntag und schicke liebe Grüße,
    Catrin.

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  3. Britta

    Gestern habe ich nur schnell meinen Link hier gelassen, um nicht wieder zu spät dran zu sein. Jetzt habe ich deinen Beitrag gelesen. “ Aus dem Leben geflogen“ es geht so schnell. Vor siebzehn Jahren flog mir mein Leben um die Ohren. Kein Stein blieb auf dem anderen. Mein Mann, unsere Firma, unsere Großfamilie – alles weg mit einem Satz der ausgesprochen wurde. Und schneller als mir lieb war, saß ich da mit drei Kindern, auf der Suche nach einer Wohnung. Kurz vor knapp wurde sie gefunden, ich sah uns schon getrennt bei Freunden und Verwandten wohnen. Freundeskreise die sich auflösten, weil unser/mein Leben so ganz anders wurde. – Heute geht es mir gut, doch die Angst wieder aus dem Leben fliegen zu können ist mir geblieben. Ich sehe diese Menschen auf unseren Straßen, in unseren Schulen. Ich lebe in einer Kleinstadt und wer sehen will, der sieht sie. Gestern habe wir nicht nur Sightseeing in Amsterdam gemacht. Unsere kleine Frauentruppe hatte auch ernsthafte Gespräche. Unter anderem übers Ehrenamt, und das nicht alles auf Menschen abgewälzt wird, die so etwas ehrenamtlich machen. In unserer Stadt ist es zum Beispiel die Tafel und die Jugendarbeit.
    Meinen Wochenrückblick hast du ja schon gelesen. Ich wünsche dir noch einen schönen Sonntag.
    Liebe Grüße
    Britta

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  4. Agnes

    Liebe Andrea,
    aus dem Leben geflogen…….., als wir 2020 in Berlin waren und eine Unterkunft in einem anderen Stadtteil hatten, haben wir sie gesehen, die Schlafstätten unter den Brücken und Menschen, die auf der Straße schliefen. Es ist erschütternd, jedes einzelne dieser Schicksale. Man weiß nicht, was diese Menschen aus dem Leben geworfen hat. Man denkt immer, es bleibt alles so wie es ist, aber so ist es nicht. Plötzlich sieht die Welt anders aus. Und welch ein Zufall, dass Du jetzt diese Überschrift wählst.
    Mein Mann ist am 21.05.2022 plötzlich aus dem Leben geflogen – ein Auto nahm ihm die Vorfahrt auf seiner täglichen Fahrradtour auf einer wenig befahrenen Straße. Trotz Helm waren die Kopfverletzungen zu stark, er konnte nicht ins Leben zurück kehren.
    LG Agnes

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  5. Karin Be

    Dein Schlusssatz bzw. das Schlusszitat passt wunderbar zu einem Gespräch, das ich mit AbschlussschülerInnen hatte. Es ging um die Abschlussfeier, Geschenke für die LehrerInnen und dann ging das Gespräch in die Tiefe. Wunderbar.
    Traurig dagegen die Beobachtung, wie arg an der finanziellen Grenze viele Familien unserer SchülerInnen leben und was diese Erfahrung mit den Kindern macht. Trotzdem werfen sie die Pfandflaschen weg, weil es die besser betuchten MitschülerInnen machen. Nach den Pausen tummeln sich Schulfremde rund um die Mülleimer, auf der Suche nach Pfandflaschen und – dosen.
    Ich hoffe sehr, meinen letzten SchülerInnen Rüstzeug, auch außerhalb des Bildungsplans, mitgegeben zu haben, dass sie ihren Weg gehen, ohne aus der Bahn zu fliegen!
    Viele liebe Grüße,
    Karin

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  6. Heidrun

    Leider wird diese Szenerie weggedrückt weil es ganz allgemein nicht zum Image passt, weil diese Menschen keine Lobby haben.

    In München musste ich oft am Stachus beispielsweise an den Bettlern vorbei und auch in Augsburg gehören sie seit vielen Jahren zum Straßenbild. Traurig!

    Liebe Grüße von Heidrun

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  7. Hannelore

    Hallo,
    diese Menschen gab es schon immer und es sind auch welche dabei die sich „aus Langeweile“ dorthin stellen.
    Ein Beispiel kann ich aus Opladen nennen.
    Dieser Mann steht oder sitzt bei Wind und Wetter in der Fussgängerzone abends packt er seine Sachen und fährt 1. Klasse nach Hause.
    Andere fragen nach Kleingeld, holen sich dafür Bier und das Leergut werfen sie dann in den Papierkorb.
    Allerdings gibt es genug Leute die unverschuldet in Notlagen geraten.
    Deutschland schafft sich ab.
    Gruß
    Hannelore

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  8. Andrea/ die Zitronenfalterin

    Deine Gedanken und Beobachtungen machen einem das Herz schwerer, als es angesichts von Krieg und Not eh schon ist…
    Liebe Grüße
    Andrea

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  9. Astridka

    Das sind lauter traurige Beobachtungen, die du da machst. Ich erlebe höchstens in unserem Veedel Flaschensammler, weil ich ja nicht mehr in die City komme. Und dann haben wir einen Drogenabhängigen, der schon seit über 30 Jahren vorm Rewe steht und dank Unterstützung vieler immer noch am Leben ist. Bei jungen Frauen empfinde ich das immer besonders schlimm, die Obdachlosigkeit.
    Da komm ich mir jetzt sehr protzig vor mit meinen üppigen Obst- und Gemüseeinkäufen und meinem guten Auskommen im Alter. Dabei denke ich jetzt oft ( die Tochter hat es zuletzt mehr als bestätigt ), ich habe halt auch zu viel gearbeitet und zu wenig gelebt. Was Work-Life-Balance anbelangt war ich ne Niete. Das seh ich an meinem Bruder, der das als Hausarzt gut geschafft hat und trotzdem ne tolle Arbeit gemacht hat. Aber ich schweife ab.
    Mach du es weiterhin besser!
    Herzlich
    Astrid

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  10. Frau Augensternswelt

    Es ist so schade, dass diese Menschen von der Straße nicht mehr wegkommen. Alkohol spielt da leider eine wichtige Rolle. Ich wünsche jedem eine erfolgreiche Entziehungskur und einen neuen Start ins Leben, mit Mitmenschen die unterstützend zur Seite stehen.

    Antworten
  11. Regula

    Guten Morgen Andrea

    Traurig das. Der Armutsreport aus Deutschland sieht nicht gut aus. Was ist bloss geschehen?

    Einen schönen Sonntag dir.

    Regula

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  12. Uschi

    Ich bin auch regelmäßig morgens um 4:45 mit dem Fahrrad unterwegs und immer wieder begegnen mir dann „Pfandsammler“. Rentner die zwar noch ne Wohnung haben aber nach leeren Flaschen suchen müssen um über die Runden zu kommen… traurig sowas!

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    • nina. aka wippsteerts

      Wer die Augen öffnet sieht oft Menschen, die vielleicht noch die Fassade hochhalten, aber auch genug, deren Burg nur noch aus Kartons besteht.
      Hoffe, Du hast das Wochenende etwas mehr Zeit zum Lesen oder so 🙂
      Liebe Grüße
      Nina

      Antworten

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