Das Leben in Kreuzberg um 1900
Ich hatte ja schon im Januar davon erzählt, wer sich alles nach Berlin begeben hat, um hier zu leben bzw. das Glück zu finden. Die Luisenstadt, ein Teil des heutigen Kreuzbergs entwickelte sich immer mehr zu einem Arbeiter- und Mittelstandbezirk. Die Luisen-Vorstadt und die Tempelhofer-Vorstadt wurde 1920 als 6. Bezirk eingemeindet. Dabei ging der südliche Teil der Luisenstadt an die Berliner Mitte. In Kreuzberg lebte eine bunte Mischung Menschen. Arbeiten und Vergnügen, Wohnen und Handel machten das Leben in diesem Bezirk interessant. 366299 Einwohner zählte der Bezirk. Es war eng, aber der Berliner machte das Beste daraus. Das Leben war sehr bunt und bestimmt nicht immer einfach.
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg zog es viele junge Menschen in die große Stadt. Es sind die Jungen, die sich Erfolg und Reichtum erhoffen. Ein Teil der Landbevölkerung zieht weiter nach Übersee. 85 % der Neuberliner sind vom Lande und vermissen ihre Dörfer. Die Kieze in der Stadt ersetzen ihre alte Heimat. Bis heute leben Berliner in ihren „Dörfern“
40 000 Mädchen und junge Frauen kommen um 1900 jedes Jahr nach Berlin. Ohne festen Wohnsitz zieht es sie als erstes zur Stellenvermittlung. Als Dienstmädchen, „Mädchen für alles“, arbeiten sie meist in den herrschaftlichen Wohnungen, schlafen auf Hängeböden oder winzigen Kammern und arbeiten rund um die Uhr. Wenn sich die Möglichkeit bietet, dann finden sie eine Stelle in einer Fabrik, um endlich auch mal ein wenig Freizeit zu haben. Die Unglücklichen werden Prostituierte, die Glücklichen finden einen ordentlichen Handwerker und gründen eine Familie.
Rund um den Görlitzer- und Schlesischen Bahnhof entstanden schnell gebaute Wohnquartiere. Mietskasernen. Eng, mit Toiletten auf dem Hausflur. Eine Stube und Küche für bis zu sieben Personen, nebst Hühnern und Kaninchen. Meistens reicht das knappe Geld kaum, um die Miete zu zahlen, weshalb die Betten tagsüber an Schlafburschen vermietet wurden. Durch Heimarbeit sorgten auch die Mütter für ein kleines Einkommen.
Arme Familien konnten neu gebaute Wohnungen „trocken wohnen“. Ein halbes Jahr durften die Armen kostenfrei dort einziehen. Oftmals zogen sie danach in die nächste „nasse“ Wohnung, wodurch sie sich mit der gefürchteten Tuberkulose ansteckten. Am 1. April und 1. Oktober waren „Ziehtage“, da die Verträge halbjährlich ausliefen. Ärgerlich, wenn man keine neue Wohnung fand. Dann wurden auf freien Plätzen Baracken gebaut. Am Kottbusser Tor entstand eine kleine „Stadt“ Barackia. Es waren ordentliche Menschen die sich dazu genötigt fühlten, ein Häuschen (Baracke) zu bauen. Manche hatten sogar kleine Küchen oder Vorratskammern. Die Frauen schmückten die einfachen Behausungen mit kleinen Gardinen und Tapeten, um es ein wenig erträglicher zu machen. Die Gutsituierten strömten nach Barackia, um die Zigeunerstadt zu betrachten. Schaulustige gab es eben schon immer. Auch heute noch findet man Baracken auf leerstehenden Grundstücken in Kreuzberg.
1886 eröffnete die erste städtische Desinfektionsanstalt. Sie war für ganz Berlin zuständig. Nachdem es in Frankreich zu einer Choleraepidemie kam und Rudolf Virchow einige Erreger und Bakterien gefunden hatte, beschloss man, dass es besser wäre die Keime aus den Wohnungen zu entfernen. 14 Mitarbeiter desinfizierten Betten, Matratzen und Kleider. Die Wohnungen wurden mit dem Formalinverfahren (Formaldehyd in Wasser gelöst, verdampft) desinfiziert. Vorher hatte man die Wände der infizierten Wohnungen mit Brot abgerieben.
In Kreuzberg brodelte das Leben und so manches ist dort geschehen. Aber davon möchte ich dir im nächsten Monat erzählen. Meinen 12tel Blick verlinke ich wieder bei Eva und hoffe, du hattest ein wenig Freude an meinen Recherchen.
Das ist ja eine spannende Geschichte, vieles wusste ich gar nicht: trocken wohnen? Brot zum Wände abreiben? Danke für diesen Einblick!
Interessant, was du hier schreibst. Vom Trockenwohnen hatte ich noch nicht gehört.
Viele Grüße!
Liebe Andrea, eigentlich war es für mich nun an der Zeit den Berliner Teil der Familie mal wieder zu besuchen… Eigentlich….
Deine Hintergrundgeschichte zum Bild und zu Berlin und Kreuzberg gefällt mir, aber warum Brot zum Wände abreiben? Weil es rauh und zu hart zum Essen war? Der Überfluss kann es nicht gewesen sein.
Alles Gute für Dich und liebe Grüße
Katrin
Tatsächlich wusste ich es auch nicht. Man kann zum Beispiel Rußflecke mit einer Scheibe Brot von den Wänden putzen. Ein Trick, den unsere Großmütter oft genutzt haben, der in Vergessenheit geraten ist.
Sehr passend gerade Deine *schöne* Geschichtsstunde! Ich glaube, gerade die Geschichte der kleinen Leute kommt oft viel zu kurz.
Danke Dir und liebe Grüße
Nina
Deine Geschichte ist sehr interessant und toll geschrieben! Ich mag solche Geschichten sehr und bin gespannt auf die nächsten Monate. Deine 12tel Blicke gefallen mir auch! Wie schön, dass es in deinem ersten Märzfoto schon blüht. Ach, Berlin ist eine tolle Stadt! Ich war bis jetzt leider nur zwei Mal dort. Beim 2. Mal jetzt im Februar, nur zum Übernachten auf der Heimreise vom Kurzurlaub, weil ich krank wurde. Aber ich komme wieder ;-)!!
Liebe Grüße
Ich mag deine spannenden Berliner Geschichten zu deinen Bildern. Diesmal war auch mal ein Mensch zu sehen. Ein Einzelner, klar, im März 2020… Den Frühling muss man noch ahnen.
Liebe Grüße
Andrea